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Evolutionäres Verhalten

 

Das natürliche Leben nimmt seine Gestalt nach den in der DNS gespeicherten Informationen an. Dabei stellt die DNS eine Informationskette mit Milliarden molekular definierter "Buchstaben" dar. Zur Zeit geht man unter anderem davon aus, dass diese Informationskette in Jahrmillionen durch Evolution entstanden ist. Wenn dies der Fall ist, dann scheint die Evolution ein leistungsfähiges Instrument zur Entwicklung komplexer Systeme zu sein. Das Interesse, den Vorgang der Evolution auf dem Rechner zu simulieren, ist daher sehr groß.

Den wohl zur Zeit vielversprechendsten Weg hat Ray Thomas, ein amerikanischer Ökologe und Biowissenschaftler, beschritten. Die in seinem Experiment simulierte Evolution kommt der natürlichen am nächsten. Um Evolution am Rechner simulieren zu können, müssen zwei Dinge erfüllt sein:

  1. Die Individuen einer Population sind einem Überlebenskriterium (sogenannter Fitness) unterworfen.
  2. Ein unabhängiger Wächter überwacht von außen die Fitness und hat damit Einfluß auf die Überlebenschance der Individuen.
  3. Thomas Ray schuf nach diesem Prinzip eine Umwelt in einem Rechner, d.h. der CPU, dem Betriebssystem, dem Arbeitsspeicher und dem überwachenden Programm. Die Individuen in dieser Umwelt sind Programme, denen zunächst keine spezielle Aufgabe zukommt. Die Vermehrung erfolgt über das identische Kopieren seiner selbst. Den Tod ereilt ein Programm, wenn es gelöscht wird. Mit dieser "Geburt" und dem "Tod" ist eine stabile Populationsgröße gewährleistet. Nur leider geschieht noch nicht viel hinsichtlich der Evolution, wenn man dieses System sich selbst überläßt. Entscheidend ist, dass Veränderungen auftreten müssen. Jetzt Mutationen werden zugelassen, die in der Form von Kopierfehlern in Erscheinung treten. Damit besteht die Möglichkeit für die Entstehung völlig neuer Programme. Die Evolution kann sich vollziehen.

    Für diese Simulation schuf Thomas Ray eine eigene Programmiersprache, die er TIERRA (span.: Erde) nannte. Tierra besteht aus 32 Anweisungen, ähnlich den Befehlen einer Maschinensprache. Die Anweisungen sind kaum mutationanfällig. Damit ist gemeint, dass durch Mutation in der Regel neue ausführbare Befehle entstehen. Jedes Individuum (Programm) lebt in einem abgegrenzten Speicherblock. Es ist nicht blind, sondern es hat auf alle Speicherbereiche seiner Mitbewohner Lesezugriff. Damit kann das Programm den Code anderer Individuen lesen und eventuell auch ausführen. Alle Programme arbeiten parallel. Sind 80% aller Speicherblöcke durch Vermehrung der Individuen belegt, beginnt eine Säuberung. Die Fitness in Tierra wird bestimmt über Alter und Korrektheit der Programme, d.h. der Säuberungsaktion fallen ältere und fehlerhafte Programm zum Opfer.

    Da das zufällige Entstehen eines reproduzierfähigen Programmes nicht sehr wahrscheinlich ist, setzte Thomas Ray zu Beginn der Simulation ein solches in seinem Rechner aus. Das Urprogramm bestand aus 80 Anweisungen. Schnell entstehen neue Individuen. Durch Mutation entwickeln sich Programme mit weniger als 80 Anweisungen, die trotzdem in der Lage sind sich selbst zu reproduzieren. Da sie kürzer sind, benötigen sie auch weniger Zeit zur Reproduktion und haben somit mehr Nachkommen. Immer leistungsfähigere Programme entstehen. Ein Kampf ums Überleben beginnt. Kreaturen entstehen mit 70, 60, 50 Anweisungen zur Reproduktion. Spitzenleistung erbringt ein Wesen, das mit nur 22 Befehlen auskommt. Man beobachtet die Population und stellt fest, Programme mit weniger als 45 Befehlen entstehen, obwohl mindestens 60 Befehle zur Reproduktion notwendig sind. Die Zahl dieser Programme nimmt ständig zu, die Zahl längerer dagegen nimmt ab. Plötzlich stoppt diese Entwicklung und kehrt sich in die Gegenrichtung um. Ein ständiges Hin und Her stellt sich ein. Wie ist das zu erklären?

    Thomas Ray fand die Ursache. Die kürzeren und damit schnelleren Programme liehen sich einen Teil der Codes größerer Programme und damit auch deren Rechenzeit. In der Computersimulation war parasitäres Verhalten aufgetaucht. Der Oszillationprozess war ergründet. Viele Parasiten führen zum Sterben der Wirtsprogramme. Gibt es aber weniger Wirtsprogramme müssen unweigerlich die Parasiten "verhungern". Eine Visualisierung des Tierra-Parasiten-Prozesses zeigen folgende zwei Bilder:

     
     

    Quellen der Visualisierung des Tierra-Parasiten-Prozesses

    http://www.excelsior.org/~erik/Neue_Intelligenz/para.jpg

    http://www.excelsior.org/~erik/Neue_Intelligenz/skull.jpg

     

    Die Individuen lernen jedoch. Es gelingt ihnen, vorübergehend immun gegen die Parasiten zu werden. Dies schaffen sie, in dem sie nicht mehr wie bisher ihren Standort und ihre Größe an den "Wächter" melden. Da aber bisher die Parasiten von dort ihre Informationen über die Wirte bekommen hatten, finden sie ihre Wirte nicht mehr und sterben aus. Lange dauert es aber nicht, bis neue Parasitenformen entstehen, die dieses Hindernis umgehen. Weiterhin entstehen "Hyper-Parasiten". Sie nutzen andere Parasiten für die eigene Fortpflanzung. Andererseits schließen sich verschiedene Individuen zwecks Arbeitsteilung zusammen. Organismen entstehen, Ray nennt sie "Betrüger-Organismen", die davon leben, dass sie eine Gruppe von Hyper-Parasiten benutzen, um sich selbst zu reproduzieren.

    Ray's Tierra-Simulation kommt, wie oben beschrieben, der natürlichen Evolution am nächsten.
     

    Tierra Natur
    Abgeschlossene Speicherbereiche abgeschlossene Zellen im Organismus
    CPU-Zeit für ein Individuum Energie
    Speicherplatz Ressourcen
    Befehle eines Programms Nukleotide in der DNS
    Programm einer Zelle Gesamte DNS

    Damit ist es möglich geworden, tausende Generationen in ihrer Entwicklung zu beobachten. Parasitäres Verhalten tritt auf, das wir von Viren in der Natur kennen. Über lange Zeiten herrscht ein stabiles Gleichgewicht, das aber plötzlich von einer rapiden Verbesserung der Individuen unterbrochen wird. Diese Erscheinung ist das, was der Evolutionsbiologe ein "unterbrochenes Gleichgewicht" nennt. In der Biologie geht man davon aus, dass das gesamte Leben aus einer Zelle stammt. Auch in Tierra mußte eine einzelne "Zelle" (Programm) in der Ursuppe ausgesetzt werden.

    Welche Bedeutung hat nun die Tierra-Simulation von Thomas Ray?

    1. Sie bietet die Möglichkeit, wichtige Gesetze der natürlichen Evolution nachzubilden. Vielleicht gelingt es sogar neue Gesetze zu entdecken.
    2. Ray's Simulationsprogramm der Evolution ist das einzige Modell, in dem die Fitness nicht von außen vorgegeben wird, sondern wie in der Natur durch das Überleben selbst definiert ist. Der Ausgang der Evolution ist offen.
    3. Es besteht die Möglichkeit, leistungsfähige und effiziente Programme für Parallelrechner zu entwickeln.

Thomas Ray ist überzeugt, dass in seinem Rechner am 3. Januar 1990, als er erstmalig Tierra startete, künstliches Leben entstand; keines aus Fleisch und Blut, wohl aber aus Computercodes.

Wie wird es mit Tierra weitergehen?

Thomas Ray, der inzwischen in Japan arbeitet, schlug im Sommer 1994 vor, Programme gleichzeitig über das Internet auf Rechnern auf der ganzen Welt zu züchten. Dabei gilt es zu ergründen, ob die Programme auch kooperieren können oder ob sie sich wie Zellen eines Organismus zusammenschließen, um sich auf verschiedene Aufgaben zu spezialisieren. Solche hochkomplexen Strukturen können sich aber nur in Superspeichern entwickeln, die jeden Rechner überfordern. Eine Alternative bietet das Internt. Die Internet-Mitglieder stellen überflüssige Rechenzeit zur Verfügung, die sie dem Experiment spendieren. Die gezüchteten Programme würden um die Welt wandern. Sie wären an Orten zu finden, an denen zur Zeit die größte freie Rechenzeit ist. Völlig neue Programmtypen sind zu erwarten. Da Tierra-Programme nur Tierra sprechen besteht auch nicht die Gefahr, dass die künstlichen Lebewesen zu Computerviren werden. Das weltweite Experiment könnte neue Eigenschaften entwickeln helfen. So könnten die Wesen die Fähigkeit erwerben, ein Gespür dafür zu entwickeln, wo freie Rechenzeit zu finden ist. Die "Erntezeit" wäre nach Monaten oder Jahren. Jeder Teilnehmer wirft sein Netz aus und fängt interessante Vertreter der Computerlebewesen und testet sie auf ihre Fähigkeiten. Nützliche Programme "zähmt" man, d.h. sie werden den menschlichen Bedürfnissen angepasst und in herkömmliche Programmiersprachen übersetzt.

Es werden noch Freiwillige gesucht.

 

(Literatur: W. Kinnebrock, "Künstliches Leben: Anspruch und Wirklichkeit", Oldenbourg-Verlag, 1996)

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