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Piaget beschreibt vier Hauptstadien, die Kinder innerhalb ihrer Entwicklung
durchlaufen (genauer gesagt beschreibt er Kinder in
jedem der vier verschiedenen Stadien).
1. Sensumotorisch 0 bis 2 Jahre
2. Präoperational 2 bis 7 Jahre (vorbegriffliches Denken)
Präkonzeptuell 2 bis 4 Jahre (anschauliches
Denken) Intuitiv 4 bis 7 Jahre
3. Konkrete Operationen 7 bis 11 oder 12 Jahre
4. Formale Operationen 11 oder 12 bis 14 oder 15 Jahre Jedes
Stadium kann bezüglich der hauptsächlich hervortretenden Charakteristika der Kinder in diesem Entwicklungsstadium und in bezug
auf das Lernen, das vor dem Übergang zum nächsten Stadium auftritt, beschrieben werden.
Sensumotorisches Stadium: Geburt bis 2 Jahre
Das einzige und auffallendste Charakteristikum des kindlichen Verhaltens in den ersten beiden Lebensjahren resultiert zum Teil aus der Abwesenheit von Sprache und intemaler Repräsentation. Die kindliche Welt ist in einem sehr wörtlichen Sinn eine Welt des Hier-und-Jetzt, da das Kind sie nicht mental repräsentieren kann. Objekte existieren nur, wenn das Kind sie wirklich wahrnimmt; sind sie außerhalb seines Wahmehmungsfeldes, hören sie auf zu existieren. Diese Tatsache kann indirekt verifiziert werden, indem man einem Kleinkind ein attraktives Objekt darbietet und es beseitigt, wenn es sich dafür interessiert hat. In den frühesten Entwicklungsstadien wird das Kind dieses nicht einmal vermissen. Nach Piagets Terminologie hat das Kind noch nicht die Vorstellung von der Permanenz und Identität von Objekten entwickelt (oftmals Gegenstandskonzept genannt).
Ein zweites Charakteristikum des in diesem Stadium befindlichen Kindes
ist schon in der Bezeichnung, dieser Phase angesprochen: sie ist eine Periode sensumotorischer Intelligenz. Nicht
nur, daß Objekte für das Kind lediglich dann existieren, wenn es auf sie reagiert; auch seine Anpassung an die Umwelt verläuft
in Form von offensichtlichen assimilatorischen und akkomodatorischen Handlungen. Mit anderen Worten, die Funktionsweise
des Kindes in Beziehung zur Welt ist sensumotorisch, indem sie die Sinne und sichtbares Verhalten einschließt.
Ein drittes Merkmal des ersten Stadiums ist, daß das Kind das kleine Repertoire von Schemata, mit dem es geboren wurde,
perfektioniert und erweitert. Hier sei daran erinnert, daß ein Neugeborenes einfacher reflektorischer Handlungen wie Saugen, Nach-etwas-greifen.
Betrachten usw. fähig ist. Ein Großteil seiner frühen Bemühungen ist dem Üben dieser einfachen
Handlungen gewidmet. Das erste Stadium umfaßt nach Piaget 6 Unterstadien (Stufen), von denen jedes durch die Natur seiner reflexiven
Aktivität unterschieden wird. Z.B. besteht das erste Unterstadium, (Geburt-Ende I.Monat) im einfachen Üben von relativ
unmodifiziertem Reflexverhalten. Die zweite Stufe (l bis 4 Monate) ist durch erworbene Adaptationen gekennzeichnet, die primäre
zirkuläre Reaktionen genannt werden. Diese Aktivitäten konzentrieren sich auf den Körper des Kindes
(deshalb primär) und sind zirkulär, weil das Verhalten seine
eigene Wiederholung auslöst. Menschliche Babys lutschen gelegentlich
am Daumen. Es ist wahrscheinlich, daß die Aktivität des Saugens Empfindungen erzeugt, die zu einer Wiederholung des Saugens
führen.
Spätere Stufen lassen die Koordinierung von getrennten Aktivitäten
erkennen, die Entfaltung der Sprache usw. Eine detailliertere Betrachtung dieser Unterstadien wird von Flavell (1963)
und Baldwin (1967) gegeben. Das letzte Charakteristikum des sensumotorischen Kindes ist der Egozentrismus,
wobei dieser Begriff in einem eher deskriptiven als herabwürdigenden Sinn benutzt wird. Ein egozentrisches Kind ist
unfähig, sich die Sichtweise anderer zu eigen zu machen. Das Kind ist im wörtlichen Sinn egozentrisch. Es kann gezeigt werden,
daß es z. B. unfähig ist, zu beschreiben, wie ein Gegenstand von einem Aussichtspunkt, der von seinem eigenen verschieden ist, aussieht
(siehe Piaget, 1961). Die Welt des Kindes ist die Welt, wie es auf sie reagiert.
Leistungen bis zum Alter von 2 Jahren
Ein Piagetsches Stadium wird nicht notwendigerweise bezüglich der Charakteristika definiert, die ein Kind vor dem Übergang ins folgende Stadium erwirbt, sondern häufiger in bezug auf die während des größten Teils des Stadiums vorherrschenden. Das sensumotorische Stadium wird so bezeichnet, weil das Kind die längste Zeit in diesem Stadium in sensumotorischer Weise auf seine Welt reagiert. Jedes Stadium ist jedoch eine Vorbereitung auf das nächste und die Leistungen in jedem sind deshalb von wesentlicher Bedeutung für die Erklärung des Übergangs zum nachfolgenden Stadium. Die Tatsache, daß ein Kind in der sensu-motorischen Phase hauptsächlich mit Aktivität reagiert, ist mit seinem Mangel an Sprachfähigkeit verbunden. Gegen Ende dieses Zeitraums hat es damit begonnen, die Sprache zu erwerben. Deshalb ist eine der Leistungen der ersten beiden Jahre die Entwicklung der Fähigkeit zu symbolisieren und zu kommunizieren - eine bedeutsame Errungenschaft, da Sprache das Denken vorantreibt und den Übergang zu einer mehr kognitiven Interpretation der Welt ermöglicht.
Eine weitere Leistung in diesem Stadium ist die Entwicklung des Gegenstandskonzepts, das gleichbedeutend mit der Entdeckung ist, daß Objekte unabhängig von der Wahrnehmung des Wahrnehmenden Permanenz und Identität besitzen. Mit anderen Worten, die Welt besteht weiter, selbst wenn sie nicht gesehen, gefühlt, gehört, gerochen oder ertastet wird - tut sie dies wirklich?
Zwei weitere Leistungen kennzeichnen den Kulminationspunkt des sensumotorischen Lernens. Erstens lernt das Kind, getrennte Aktivitäten zu koordinieren. Obwohl diese Fähigkeit nicht von großer Bedeutung erscheinen mag, insbesondere da wir es meist als selbstverständlich hinnehmen, daß zahlreiche Aktivitäten koordiniert werden können, ist dies für das Kind kein kleines oder unwichtiges Ereignis. Solange keine Kooperation zwischen so einfachen Aktivitäten wie Betrachten und Danach-grei-fen besteht, können wir die Gegenstände, die sie betrachten und haben möchten, nicht erhalten. Z.B. muß für ein solch unkompliziertes Verhalten wie das Aufheben eines Kugelschreibers nicht nur das Sehen den Arm steuern; auch die Hand und evtl. noch andere Körperteile müssen ins Spiel gebracht werden. Die andere Leistung ist das Erkennen von Ursache- Wirkungs- Zusammenhängen. Das Kind ist nicht mit dem Wissen geboren, daß es, wenn es nach einem Objekt langt, dieses greifen und sich näher bringen kann; es muß dies lernen. Genau diese Art des Lernens ist es, die ihm erlaubt, Intentionalität zu entwickeln, denn bevor das Kind nicht weiß, welches die Wirkungen seiner Aktivitäten sind, kann es diese Wirkungen nicht anstreben (intendieren).
Präoperationales Denken: 2 bis 7 Jahre
Dieses Stadium in der Evolution des Kindes stellt eine merkliche Verbesserung gegenüber dem ersten dar; dies natürlich nur in bezug auf das Kind, das jetzt ein weiteres Verständnis seiner Welt besitzt, denn gegenüber einem Erwachsenen weist es doch noch ernsthafte Mängel auf. Das Stadium wird für gewöhnlich in zwei Stufen unterteilt, deren Merkmale und Leistungen im folgenden besprochen werden.
Präkonzeptuelles (vorbegrifßiches) Denken: 2-4 Jahre
Dieses Stadium ist hauptsächlich durch die Unfähigkeit des
Kindes, sämtliche Eigenschaften von Klassen zu verstehen, charakterisiert. Nachdem es die Fähigkeit erworben hat, Objekte
internal (mental) zu repräsentieren und sie auf der Grundlage ihrer Klassenzugehörigkeit zu identifizieren, fährt es fort,
auf alle ähnlichen Objekte so zu reagieren, als seien sie identisch.
So sind für einige Zeit alle Männer "Papa", alle Frauen "Mama",
alle Tiere sind "Wauwau" und die Welt ist einfach. Wenn ein Kind im Hause seines Freundes einen Teddy erblickt, der so aussieht wie
sein eigener, weiß es, daß dies sein Teddy ist - und das Dreirad
im Laden ist klarerweise auch seins. Das Kind versteht etwas von Klassen,
da es Objekte identifizieren kann; sein Verständnis ist jedoch unvollständig,
da es noch nicht zwischen scheinbar identischen Mitgliedern derselben Klasse
unterscheiden kann - daher der Terminus "vorbegrifflich". Diese Art des
Denkens hat gelegentlich Vorteile für die Eltern: der Nikolaus bleibt
weiterhin das einzige Individuum seiner Art, selbst wenn er an einem Tag
an zehn verschiedenen Orten gesehen wird. Ein anderes Merkmal des kindlichen
Denkens in diesem Stadium ist, daß es transduktiv ist, im Gegensatz
zu induktiv oder deduktiv. Die beiden letzten Arten des Denkens sind "logisch";
induktives Denken beginnt mit Spezifika und geht bis zur Generalisation,
während deduktives Denken mit der Generalisation beginnt und mit Spezifika
endet.
Transduktives Denken hingegen überträgt Schlußfolgerungen
von einem Spezifikum auf das andere. Z. B. ist das Kind, das folgert: "Mein Hund hat Haare; das Ding da hat Haare, auch wenn sie
nur ein kleines rosa Büschel sind; das Ding ist also ein Hund." Das Ding hätte gut ein Hund sein können, wobei das
transduktive Denken dann zu einer richtigen Schlußfolgerung geführt hätte. In diesem Fall war das Ding jedoch ein Stinktier.
Die Periode des intuitiven (anschaulichen) Denkens: 4 bis 7 Jahre
Ein Kind im Alter von 4 Jahren hat ein vollständigeres Konzept-Verständnis
erlangt und hat größtenteils aufgehört, transduktiv zu denken. Sein Denken ist etwas logischer geworden, obwohl es mehr
durch die Wahrnehmung als durch Logik beherrscht wird. In der Tat ist die Rolle, die die Wahrnehmung beim anschaulichen
Denken spielt, wahrscheinlich das auffallendste Charakteristikum dieser Periode. Dies wird besonders bei den berühmt
gewordenen Invarianzaufgaben deutlich. Ein typisches Invarianz-Problem sieht so aus: Dem Kind werden zwei identische Objekte
dargeboten, dann wird ein Objekt irgendwie verformt neu angeordnet oder sonstwie in seiner Erscheinung verändert;
die Quantität jedoch bleibt die gleiche. Dann wird der Vp (Kind) eine Frage zu einer der quantitativen Eigenschaften des Objekts
gestellt. Denkt sie, daß diese sich verändert haben, so wird angenommen, daß sie die Invarianz noch nicht erworben
hat. Eine detailliertere Besprechung der Invarianz findet in dem
Abschnitt über konkrete Operationen statt. Ein Beispiel wird jedoch
schon hier gegeben. Bei dieser Aufgabe geht es um die Invarianz flüssiger Quantitäten. Der Vp werden zwei identische
Becher gezeigt, die bis zur gleichen Höhe mit Wasser gefüllt
sind (siehe Abbildung). Dann schüttet der VI den Inhalt des einen Bechers
in eine lange dünne Röhre..
Die Vp, die beim ersten Mal zugab, daß die Mengen in jedem Becher
gleich seien, wird nun gefragt, ob in dem neuen Behälter ge-nausoviel,
mehr oder weniger Wasser ist. Im intuitiven Stadium (anschauliches Denken)
wird sie fast immer sagen, es sei mehr, weil es in der Röhre viel
höher stehe. Mit anderen Worten, das Kind achtet auf die irreführenden
Wahrnehmungsmerkmale der Reizsituation. Ein zweites Merkmal des Menschenkinds
zwischen 4 und 7 Jahren ist seine sehr egozentrische Argumentation. Genauso
wie das Kind in der sensumotorischen Phase unfähig ist, den physikalischen
Gesichtspunkt einer anderen Person anzunehmen, so hat das anschaulich denkende
Kind Schwierigkeiten, den mentalen Gesichtspunkt anderer zu akzeptieren.
Dies wird durch folgendes Experiment verdeutlicht:
Eine Jungen- und eine Mädchenpuppe werden Seite an Seite an einem
Stück Draht befestigt. Der VI hält jeweils ein Ende des Drahtes in jeder Hand, versteckt die Puppen hinter einer kleinen Sichtblende,
die zwischen ihm und dem Kind aufgestellt wurde, und bittet nun das Kind, vorauszusagen, welche Puppe zuerst erscheint,
wenn die Puppen zur linken Seite hin bewegt werden. Die Antwort des Kindes wird notiert, die Puppen werden in ihre ursprüngliche
Position zurückgebracht und die Frage wird wiederholt. Wiederum kommen die Puppen links heraus; dieselbe Puppe
kommt zuerst. Dieses Vorgehen wird einige Male wiederholt. Ein leidlich intelligentes Menschenkind wird zunächst
im allgemeinen korrekt antworten. Nach einer Weile ändert es jedoch seine Meinung und sagt voraus, daß die andere Puppe herauskommen
wird. Wenn es gefragt wird, warum es das denkt, so ist es unwahrscheinlich, daß es sagt, es mißtraue
psychologischen Versuchsleitern, da es wohl noch nicht gelernt hat,
solchen Leuten zu mißtrauen. Stattdessen sagt es etwas wie: "Du
bist gemein, sie muß jetzt auch mal herausdürfen". Diese Art der Lösung eines einfachen logischen Problems durch ausschließliche
Bezugnahme auf die eigene Sicht beim Kinde mag die Rolle der Egozentrik im intuitiven anschaulichen (präkonzeptuellen)
Denken verdeutlichen. Ein letztes Charakteristikum des Kindes in diesem Stadium ist, daß es noch nicht die Fähigkeit
zu klassifizieren erlangt hat. Obwohl es mit einzelnen Klassen umgehen kann, kann es Unterklassen, die in größeren Gruppierungen
eingebettet sind, noch nicht gedanklich verarbeiten. Ein vierjähriges Kind, dem sieben Bonbons auf der Handfläche
vorgezeigt werden, von denen zwei aus Schokolade und fünf Gummidrops sind, erkennt sofort, daß alle Bonbons sind und wird
dies wahrscheinlich auch sagen, wenn es gefragt wird. Wenn der VI jedoch sagt: "Sag mir, liegen da mehr Gummibonbons oder mehr
Bonbons, oder weniger Gummibonbons oder gleichviel?" so wird es fast immer sagen, daß mehr Gummibonbons
als Bonbons da sind. Versuchen Sie es mal! Dieses Experiment wird dahingehend interpretiert, daß, wenn eine Klasse
in Unterklassen aufgesplittert wird und das Kind gebeten wird, die Unterklasse (Gummibonbons) und die größere Klasse
(Bonbons) zu erörtern, es dies nicht tun kann, da die
Unterteilung die Herkunftsklasse zerstört hat (was bei einem in
dieser Phase befindlichen Kind der Regelfall ist). Das vorbegriffliche (präkonzeptuelle) und das anschauliche (intuitive)
Denken sind Stufen des präoperationalen Stadiums. Es ist von einiger Bedeutung zu erkennen, daß die Bezeichnung präoperational
die beiden Stufen in einem sehr wörtlichen Sinne beschreibt. Vor dem 7.Lebensjahr denkt das Kind noch nicht in Operationen.
Wie die Bezeichnungen für die beiden nächsten Stadien klar zeigen, gelangt das Durchschnittskind um das 7. Lebensjahr
herum zum operationalen Denken. Deshalb ist "Operation" ein zentraler Begriff in Piagets System. Eine Operation
kann definiert werden als intemalisierte Handlung, die bestimmten logischen Regeln unterliegt, von denen die wichtigste die
Umkehrbarkeit ist. Damit wäre die Beschreibung einer Operation als reversibler Gedanke gar nicht unpräzise, da eine
intemalisierte Handlung als Gedanke interpretiert werden kann.
Ein Gedanke ist reversibel, wenn er ungedacht sein kann. Das ist eine
etwas unelegante und rohe Definition eines gemeinhin so-phistizierten und nebulösen Konzepts, aber sie ist nicht unrichtig
(obwohl sie immer noch nebulös sein kann). Um nicht alles noch mehr durcheinanderzubringen, verzichten wir auf eine weitere Ausarbeitung
der hier gegebenen Definitionen. Stattdessen werden wir bei der Darstellung der beiden letzten Stadien von Piagets
Theorie einige Beispiele für operationales Denken erläutern.
Pause!
Wieder ertappe ich mich dabei, daß ich
etwas von mir selbst (Lefrancois, 1982) ausleihe. Während ich an einem
schwierigen
Kapitel über Piaget schrieb, erkannte ich
plötzlich, daß die Lesenden fast am Ende ihrer Fähigkeit
angelangt sein müßten - ich
selbst war fast eingeschlafen. An diesem Punkt
fügte ich den hier wiedergegebenen Abschnitt ein (mit Erlaubnis reproduziert).
Pause!
Halt! Für den mit Piaget noch nicht so völlig vertrauten
Leser ist es vielleicht empfehlenswert, an diesem Punkt einmal zu unterbrechen. Sollten Ihnen ein Elektroenzephalograph, ein Kardiograph,
ein Thermometer, ein Pupillometer, sowie jeder beliebige andere Graph oder Meter zur Verfügung stehen, sollten
diese angeschlossen und dann simultan abgelesen werden. Alpha-Wellen zusammen mit verlangsamtem Herzschlag, normaler Temperatur
und verminderter Pupillengröße sind Symptome eines drohenden Jargon-Schocks (= Schock infolge von zuviel Fachchinesisch).
Dieser Zustand kann in einem fortgeschrittenen Stadium der Konzentration und dem Lernen höchst
unzuträglich sein. Einige Stunden Schlaf bringen für gewöhnlich eine bedeutende Verbesserung des Zustandes. Wenn Sie
keine dieser raffinierten elektronischen Vorrichtungen verfügbar haben, können sie diese durch einen Handspiegel
ersetzen. Halten Sie sich den Spiegel vors Gesicht und sehen Sie sich ihre Augen an. Wenn sie geschlossen sind, so befinden Sie sich
wahrscheinlich im letzten Stadium des "Jargon-Schocks".
Konkrete Operationen: 7 bis 11 oder 12 Jahre
Die Hauptmerkmale der Phase der konkreten Operationen lassen sich am besten darstellen, indem man dieses Stadium gegen die vorangehenden und die noch folgenden Stadien absetzt. Dieser Abschnitt umfaßt dementsprechend einmal die Analyse der Unterschiede zwischen präoperationalem und konkretem Denken, zum zweiten die Unterschiede zwischen formalem und konkretem Denken.
Konkrete Operationen und präoperationales Denken
Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Perioden ist, wie schon gesagt, der, daß das Kind die Fähigkeit, Operationen zu benutzen, nicht vor dem 7. oder 8. Lebensjahr erlangt. Genauer gesagt, zeigt es dann drei neue Fähigkeiten: es kann mit Klassen, mit Serien und mit Zahlen umgehen. Als Folge der nunmehr auftretenden - die Operationen definierenden -logischen Denkeigenschaften erwirbt das Kind nur allmählich auch die verschiedenen Invarianz-Konzepte, auf die weiter unten noch eingegangen wird.
1. Klassen. Es wird angenommen, daß die Fähigkeit des Kindes zu klassifizieren das Ergebnis von Aktivitäten ist, mit denen es sich vorher bezüglich realer Objekte beschäftigt hat. Infolge des Kombinierens, Dissoziierens und Einordnens von Objekten in Gruppen hat das Kind etwas über Klassenzugehörigkeiten gelernt und ist nun in der Lage, miteinander verknüpfte Klassen gedanklich zu verarbeiten. Die Bonbonaufgabe ist für das Kind im Stadium der konkreten Operation so leicht, daß -würde ihm die Frage gestellt - es für den armen VI wohl nur ein mildes (oder verächtliches) Lächeln übrig hätte.
2. Serien. Ebenfalls als Resultat der Erfahrungen mit realen
Objekten erwirbt das Kind die Fähigkeit, sie in Reihen anzuordnen und Übereinstimmung zwischen Reihen herzustellen. Piaget untersuchte
das Verständnis für Serienanordnung, indem er Kindern verschiedene Objekte darbot, die leicht in einer Dimension aufgereiht
werden konnten - z. B. Puppen und Spazierstöcke wie in Abb. 9.3 gezeigt. Vor dem Stadium der konkreten
Denkoperationen reiht
das Kind Gegenstände auf, indem es zwei von ihnen auf einmal vergleicht, es zieht jedoch selten den notwendigen Schluß,
daß, wenn A größer als B und B größer als C
ist, A auch größer als C sein muß. Das "präoperationale"
Kind ist keineswegs verwirrt, wenn es C vor B stellt, wenn es gerade A
mit C verglichen hat. Im Stadium der konkreten Operation machen Kinder selten
einen Fehler bei dieser Aufgabe, selbst wenn sie
zwei Reihen in eine eins-zu-eins Übereinstimmung bringen sollen
(wie in Abb. 9.3).
3. Zahl. Die Fähigkeit, mit Zahlen umzugehen, ist ein logisches Resultat des Klassifizierens und Aufreihens, denn ein vollständiges Zahlenverständnis erfordert sowohl etwas Verständnis ihrer Kardinaleigenschaften als auch Kenntnis ihrer Rangfolgebedeutung. Kardinaleigenschaften sind die Klasseneigenschaften einer Zahl. Die Zahl 4 ist eine Abstraktion, die die Ansammlung einer Gruppe von spezifischer Größe bezeichnet, d. h., einer Klasse von verknüpften Objekten. Ordination bezieht sich auf die Rangcharakteristika einer Zahl. Die or-dinalen Eigenschaften der Zahl 4 sind spezifischerweise, daß sie der 5 vorangeht und auf die 3 folgt, d.h., daß ordinale Eigenschaften sich auf die Abfolge (oder Serie) beziehen. (siehe Abbildung). Übereinstimmung zwischen zwei geordneten Serien. Ein Kind, das sich in der Phase der konkreten Operationen befindet, kann eine zufällige Anordnung von Puppen und Stöcken verschiedener Größe in die hier gezeigte Reihenfolge bringen, wenn es dazu aufgefordert wird
Die Invarianzen
Die Piagetsche Art des Lemens hat mit dem Erwerb von Invarianzbegriffen zu tun. Invarianz kann definiert werden als die "Erkenntnis, daß Quantität oder Menge von Objekten unverändert (invariant) bleiben, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen und nur die Form oder die räumliche Anordnung verändert wurde." (Lefrancois, 1966, S. 4). In dem Experiment, bei dem Wasser aus einem breiten Behältnis in eine große, dünne Röhre umgefüllt wurde, hat das Kind die Invarianz solange noch nicht erworben, bis es angibt, daß die Mengen tatsächlich unverändert sind. Es sind zahlreiche Arten von Invarianz, von denen jede sich auf ein spezifisches quantitatives Attribut eines Objekts bezieht, und von denen jede in sehr ähnlicher Reihenfolge von den meisten Kindern erworben wird. Z. B. wird die Invarianz der Substanz allgemein bis zum Alter von 7 oder 8 Jahren erworben, wohingegen die Flächeninvarianz nicht vor dem 9. oder 10. und die Volumeninvarianz nicht vor dem 11. oder 12. Lebensjahr gelernt wird. Einige Attribute scheinen schwerer erlernbar zu sein als andere; z.B. ist Volumen der direkten Erfahrung des Kindes weniger zugänglich als Substanz (siehe Piaget, 1957). Obwohl diese Unterscheidung die Reihenfolge des Erwerbs der verschiedenen Invarianzbegriffe aufzeigen kann, bleibt doch die Frage bestehen, warum Invarianzbegriffe nicht vor den konkreten Denkoperationen erworben werden. Piaget hat auf diese Frage eine Antwort geliefert.
Die Tatsache, daß ein Kind "mehr" sagt, wenn ein Gegenstand ihm größer, länger oder dicker erscheint, rührt offensichtlich daher, daß es ihn so wahrnimmt. Also diktiert die Wahrnehmung die Natur seiner Antwort. Es ist jedoch nicht Wahrnehmung per se, sondern eher ein Mangel an angemessenen operationalen Denkstrukturen, der es dem Kind unmöglich macht, von Anfang an korrekt zu antworten.
Ein einfaches Beispiel: Wenn ein Kind bei der oben beschriebenen Invarianzaufgabe (Wasser in Becher und Röhre) korrekt antwortet, so kann es auf drei verschiedene Arten argumentieren; jede dieser drei Arten steht für eine neuerworbene logische Eigenschaft, die nunmehr das Denken des Kindes bestimmt. Das Kind könnte denken: "Wenn das Wasser aus der hohen Röhre zurück in den Becher gegossen würde, so müßte immer noch so viel Wasser wie vorher da sein; also kann es sich nicht verändert haben." Dieser Gedanke würde das veranschaulichen, was Piaget Reservibilität nennt, eine Eigenschaft, auf die schon vorher kurz angespielt wurde. Nicht nur kann die Handlung ungedacht (oder geistig ungeschehen gemacht) werden, sondern es ergeben sich auch einige notwendige, logische Konsequenzen. Die wichtigste Konsequenz ist offensichtlich, daß der Transformationsprozeß die Quantität nicht verändert.
Das Kind könnte auch folgern, daß, da nichts zu einem der Behälter hinzugefügt oder von ihm weggenommen wurde, die Menge gleichgeblieben sein muß. Dies ist ein Beispiel für die Identitätsregel, die besagt, daß es für jede Operation (Handlung) eine andere Operation gibt, die sie unverändert läßt. Offensichtlich erzeugt das Hinzufügen oder Fortnehmen von Nichts keine Veränderung. Eine dritte Alternative wäre: "Die Röhre ist höher, aber auch dünner, also gleicht es sich aus." Piaget und Inhelder (1941) weisen auf dieses Denken als Kombinativität (oder Kompensation) hin, welche eine Eigenschaft ist, die in bezug auf die logischen Konsequenzen der Kombination von mehr als einer Operation, in diesem Fall mehr als einer Dimension, definiert ist. Eine weitere Klärung dieser Begriffe kann durch Hinweise auf konkrete Beispiele von Invarianzproblemen erreicht werden. Ihnen sei nahegelegt, sie mit jungen Menschen zu wiederholen, wo immer Sie diese finden. Es mag erheiternd sein, sie vor der Großmutter durchzuführen, nachdem man ihr die Vorgehensweise erklärt hat, und sie vorausgesagt hat, wie die Antwort des Kindes sein wird. Nehmen sie einen 4- oder 5-jährigen, um sicherzugehen, daß ihre Großmutter Unrecht haben wird. Die bei den folgenden fünf Experimenten in Klammern gesetzten Altersangaben können nur als sehr ungenaue Annäherungswerte betrachtet werden.
l. Invarianz der Anzahl (Alter 6-7). Zwei Reihen mit Spielmarken werden einander paarweise zugeordnet und zwischen VI und Vp gelegt.
Eine der Reihen wird dann verlängert oder verkürzt.
Die Vp wird jetzt gefragt, welche Reihe mehr Spielmarken enthält
oder ob die Zahl noch immer gleich ist.
2. Längeninvarianz (Alter 6-7). Der VI legt der Vp zwei Stäbchen vor. Die Enden bilden eine Linie:
Die Vp wird gefragt, ob die Stäbchen gleich lang sind. Daraufhin
wird ein Stäbchen nach rechts verschoben:
Die Frage wird wiederholt.
3. Invarianz von Massen (Alter 7-8). Der Vp werden zwei Bälle gezeigt. Sie wird gefragt, ob die Bälle die gleiche Menge Lehm enthalten. Antwortet die Vp mit .nein4, wird sie gebeten, die Massen einander anzugleichen. (Es ist nicht ungewöhnlich für ein kleines Kind, einen Ball zu drücken, um ihn kleiner zu machen.) Ein Ball ist dann deformiert:
Die Vp wird erneut gefragt, ob die Bälle die gleiche Masse haben.
4. Invarianz von Flächen (Alter 9-10). Der Vp wird ein großes Stück Karton gegeben, das genau so aussieht, wie das des VI. Beide Kartons stellen je ein Spielfeld dar. Die Vp wird gebeten, immer dann ein Gebäude auf das Spielfeld zu stellen, wenn der VI das auch tut. Sind neun Gebäude auf das Spielfeld verteilt, rückt der VI seine Gebäude in einer Ecke zusammen.
Die Vp wird gefragt, ob auf jedem Spielfeld gleich viel Platz ist.
5. Invarianz von Flüssigkeitsmengen (Alter: 6-7). Der Vp werden zwei identische Behälter gezeigt, die den gleichen Wasserstand aufweisen.
Der Inhalt eines Behälters wird danach in eine hohe, dünne
Röhre gegossen, der Inhalt des anderen in einen flachen Teller.
Die Vp wird gefragt, ob die Wassermenge in beiden Gefäßen
gleich bleibt.
Kann Invarianz gelernt werden ?
Wenn es Großmutter gerade um ein Haar geglückt ist, ihre
Entrüstung zu überwinden, und sie sich anheischig macht, eine Perle ihrer altertümlichen Weisheiten
preiszugeben, die die Resultate der Wissenschaft erklären
und gleichzeitig verleumden soll, wenden Sie sich, lieber Leser, ihr
zu und sprechen Sie folgende Herausforderung aus: "Großmutter, ich fordere Dich heraus! Ich fordere Dich heraus!
Ich sagte, Großmutter, ich fordere Dich heraus!" (Es ist bei Großmüttern oft notwendig, Dinge mehrere Male zu wiederholen.)
Es hat gewiß keinen Zweck, die Herausforderung zu erklären, bevor Ihre Großmutter Sie nicht gut genug verstanden
hat, um die Perle der Weisheit zumindest momentan an ihrem Platz zu belassen und zu sagen: "Was?" In diesem Augenblick können
Sie fortfahren: "Ich wette mit Dir, liebe Großmutter, daß Du dem kleinen Norbert nicht beibringen kannst, richtig zu antworten,
wenn ich dieses Plastilin zu einem Kuchen knete". Großmutter wird wahrscheinlich genauso versagen wie viele Untersucher,
z.B. Smedslund (1961, a, b, c, d und e) in seinen früheren Experimenten. Zwar ist es einer Anzahl von Psychologen
kürzlich geglückt, den Erwerb von Invarianzbegriffen bei einigen (niemals bei allen) Kindern zu beschleunigen, jedoch nach ausgedehntem,
systematischem und theoretisch fundiertem Training (z.B. Lefrancois, 1968; Towler, 1967; Cote, 1968; Travis,
1969). Keiner dieser Psychologen hat klar gezeigt, daß
solche Beschleunigungen eine allgemein wohltuende Wirkung auf andere
Aspekte der kindlichen Tätigkeiten hat. Laurendeau und Pinard (1962) sind der Auffassung, daß planvolle Erfahrungen
der Art, wie sie gewöhnlicherweise in Beschleunigungsstudien eingesetzt werden, wahrscheinlich nicht ausreichen,
um den Verlauf der Entwicklung bedeutend zu ändern. Großmutter wird versagen!
Konkrete Denkoperationen und formales Denken
Konkretes Denken unterscheidet sich auf mehrere Weise von der Denkart, die das Stadium der formalen Operationen charakterisiert. Die Denkstrukturen der konkreten Operationen werden direkt auf wirkliche Objekte oder auf Objekte, die man hervorrufen kann, angewandt. Mit anderen Worten, das Kind behandelt noch nicht das, was bloß hypothetisch ist, außer, wenn es direkt mit konkreter Realität verbunden werden kann. Weiterhin ist es unfähig, mit kombinatorischer Analyse umzugehen, die Piaget als das systematische Hervorbringen aller möglicher Kombinationen beschreibt. Manchmal wird z. B. gesagt, daß die Logik der konkreten Operationen die Logik von Klassen, jedoch nicht die Logik von Klassenprodukten ist (Peel, 1960). Diese Unterscheidung kann in Bezugnahme auf Tabelle 9.2 (s.u.) definiert werden, die sowohl ein Vierfelder-Klassifikationssystem (a) als auch eine erneute Kombination der Produkte dieser vier ursprünglichen Kombinationen (b) zeigt. Die erste Anordnung kann von einem Kind im Stadium der konkreten Operationen ausgeführt werden, die zweite nicht, was im nächsten Abschnitt veranschaulicht wird. Eine dritte Begrenzung der konkreten Operationen ist die, daß das Verständnis des Kindes für solche Regeln der Logik wie Identität und Reversibilität nicht vollständig generalisiert ist - mit anderen Worten: das Kind handelt nur in einigen Situationen diesen Regeln entsprechend; es löst z.B. eine Zahleninvarianzaufgabe viel eher als eine Flächeninvarianzaufgabe, obwohl der gleiche logische Denkprozeß auf beide angewandt werden kann.
Tabelle 9.2. Eine 2 x 2 Klassifikation
Rot | Blau | |
Kreis | Roter Kreis | Blauer Kreis |
(RK) | (BK) | |
Viereck | Rotes Viereck | Blaues Viereck |
(RV) | (BV) |
(a) Alle möglichen Kombinationen des Produktes von (a)
NICHTS | RK | BK | RV |
BV | RK BK | RK RV | RK BV |
BK RV | BK BV | RV BV | RK BK RV |
RK BK BV | RK RV BV | BK RV BV | RK BK RV BV |
Formale Denkoperationen: 11 oder 12 bis 14 oder 15 Jahre
Das letzte Stadium der Entwicklung des menschlichen Denkens beginnt
ungefähr im Alter von 11 oder 12 Jahren. Es ist gekennzeichnet durch das Auftreten von
propositionalem Denken - d.
h. Denken, welches nicht auf die Berücksichtigung des konkret oder potentiell Wirklichen beschränkt ist, sondern sich
auf dem Gebiet des Hypothetischen abspielt. Eine Proposition ist jede Aussage, die richtig oder falsch sein kann. Das Kind kann
nun vom Wirklichen zum nur Möglichen und vom Möglichen zum Tatsächlichen folgern. Es kann hypothetische Zustände
mit tatsächlichen Zuständen vergleichen oder umgekehrt und somit kann es sich auch über die scheinbare Unverantwortlichkeit einer
Generation von erwachsenen Menschen aufregen, die sich selbst an den Rand des Ruins gebracht hat. Zwei Experimente können
die Unterschiede zwischen formalen Denkoperationen und früheren Stadien veranschaulichen. Das erste (Piaget, 1961)
ist ein einfacher Test zum verbalen Denken des Typs: A > B;
A < C; wer von A, B oder C ist der größte? (z.B. John
ist dünner als Bill; John ist dicker als Sam; wer ist der Dickste
von den dreien? Kinder, die jünger als 11 oder 12 Jahre sind, haben große
Schwierigkeiten mit solchen Aufgaben, außer wenn es sich um Objekte handelt, die sie sehen können. Der Grund ist, daß
die Lösung der Aufgabe propositionales Denken erfordert, d.h. Nachdenken über hypothetische Aussagen. Bei einem zweiten Experiment
(Piaget, 1961) soll die Vp farbige Scheiben auf alle möglichen Arten (in Zweier-, Dreier- usw. Anordnungen) kombinieren.
Das zu formalen Operationen fähige Kind wird dies vollständig und systematisch tun, während ein jüngeres
Kind für gewöhnlich einige, aber selten alle Kombinationen herstellen kann, weil sein Ansatz eher zufallsbezogen als systematisch ist.
aus:
Psychologie des Lernens
Guy R. Lefrancois
3.Auflage, Springer-Verlag, Heidelberg, 1994
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